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März 2020 - Prokrastinieren

Bärbels ungebetener Ratschlag – Prokrastinieren


Eine Kolumne von Bärbel Stolz Ich habe mit meiner Schwester in Ravensburg telefoniert. Obwohl wir wirklich nur ganz kurz was besprechen wollten, hat das Telefonat zwei Stunden gedauert. Ich habe ihr vorgejammert, dass ich meine To-do-Liste nicht ansatzweise abgearbeitet habe und einfach nicht vorankomme. Und nicht mal wirklich sagen kann, was ich stattdessen gemacht habe. Das hätte ich dann wenigstens auf meine Done-Liste schreiben können. Allerdings habe ich die noch nicht angelegt. Steht noch auf meiner To-do-Liste. Und du? Hast du schon was geputzt, aufgeräumt, erledigt, organisiert? Hast du eine To-do-Liste, bei der du gewissenhaft Punkt für Punkt abarbeitest, oder folgst du einer eingespielten Routine? Ich mache mir viele Listen. Auf Zettel, in Hefte, im Kalender, im iPhone, als Sprachnachricht … Eine Liste zu haben gibt mir das Gefühl, meine Aufgaben im Griff zu haben. Trotzdem oder vielleicht auch darum arbeite ich sie oft nicht ab. Ich prokrastiniere. Prokrastinieren ist ein Wort, das ich als Klugscheißerin eigentlich immer gerne mochte, das Pro hat einfach etwas Positives, finde ich. Es kommt aus dem Lateinischen und ist eine Zusammensetzung aus pro = für und crastinum = morgen, bedeutet aufschieben und meint das unnötige Verschieben von wichtigen Aufgaben auf einen späteren Zeitpunkt. Im Internet ist nachzulesen, dass ausdrücklich nicht das legitime Aufschieben aufgrund äußerer Umstände gemeint sei, sondern Bequemlichkeit oder der fehlende Überblick. Das gibt mir zu denken. Denn ich neige zum Prokrastinieren und habe mir immer eingeredet, dass es von größter Wichtigkeit sei, mir dafür Zeit zu nehmen, um die Kreativität in Gang zu setzen. Bei mir läuft das meistens so, dass ich mich vor den Laptop setze, um zu arbeiten. Und mir ist absolut bewusst, woran genau ich arbeiten möchte bzw. sollte. Und dann öffne ich ein neues, leeres Dokument, das ich mit Texten füllen will. Mit schlauen, lustigen, anregenden Texten, Texten voll Weisheit und Witz. Und mein Hirn ist so leer wie das Blatt. Oder so voll, dass ich nicht durchkomme durch alle Gedanken. Dann denke ich: eine Runde Solitär und dann lege ich los. Denkste, Puppe. Denn diese Spiele sind ja regelrechte Prokrastinationsfallen. Wenn die Patience nicht aufgeht, beginnt man sofort die nächste. Nur noch eine. Wieder nicht. Jetzt die allerletzte. Und auf einmal sind 30 Minuten vergangen. Oder ich setze mich ans Klavier. Jetzt ist keiner da außer mir – ich kann Memories singen und mich stümperhaft dabei begleiten! Oh nein, schon Mittag? Kann man als Schwäbin unbeschwert prokrastinieren? Das heißt in Süddeutschland doch: einfach faulenzen, und das führt dazu, dass es „ohmeglich“ aussieht. Das heißt, dass ich die Wahrheit sage, wenn es überraschend an der Tür klingelt und ich die Freundin mit den güldenen Worten hereinbitte: „Entschuldige bitte, bei mir sieht´s unmöglich aus!“ Oder ich nehme mir fest vor, gleich nachdem ich meine Tochter in der Kita abgegeben habe, zum Einkaufen loszusausen. Und bleibe dann mit einer anderen Mutter kleben, weil wir uns über den neuesten Trend in Prenzlauer Berg unterhalten. Alles vertane Zeit? Es ist ja so, dass du während des ziemlich stumpfsinnigen Solitärspiels Zeit hast, deine Gedanken auf Reisen zu schicken. Du führst im Geist Gespräche, erledigst Dinge – und hast dabei durchaus Geistesblitze. Was dann zu tiefsinnigen Texten führen kann. Kann. Wenn du dich einfach mal vom Moment aufhalten lässt, bemerkst du ganz neue Dinge: Beispielsweise wie nett diese Frau ist und was für interessante Ansichten sie hat. Vielleicht baust du dabei alte Vorurteile ab. Vielleicht lächelst du den ganzen Tag, obwohl du 30 Minuten später losgefahren bist, vergessen hast, die Butter zu kaufen und wieder den Paketboten verpasst hast. Dadurch musst du aber bei einer Nachbarin klingeln, die du noch nicht kanntest und erklärst dich spontan bereit, ihre Blumen am Wochenende zu gießen. Ich nenne das ab sofort nicht mehr prokrastinieren. Und das solltest du auch nicht mehr tun. Nenne es bewusste Entschleunigung. Oder Mindfulness. Meine Schwester hat mir am Ende des Telefonats einen Satz geschenkt, der mir direkt wieder gute Laune gemacht hat – deshalb schenke ich den an euch weiter: „Frage dich am Ende des Tages einfach mal nicht: ‚Was hast du heute gemacht?‘, sondern: ‚Was hast du heute gedacht?‘“ ■


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