Nach zwei Jahren Pandemie sehnt man sich ja danach, endlich wieder unter Menschen zu sein, und wenn es dann noch Freunde sind: himmlisch. Aber ich bin mir nicht sicher, ob meine ohnehin durchwachsene Sozialkompetenz nicht extrem gelitten hat.
Dabei hatte ich mich schon so weiterentwickelt. Damals. Gute Freunde sagen einem ja die Wahrheit. Ich habe gute Freunde. Wie Ina. Ina hat mir eines Tages gesagt: „Bärbel, die Leute haben Angst vor dir. Du bist zu direkt. Du musst mal ein bisschen höflicher sein. Du bist manchmal ein richtiger Arsch. Eine ganz böse Bitch!“ Wir waren bei einer Theateraufführung von Freunden. Ein Stück eines Studenten. Selbst inszeniert. Und ich fand es schlecht. Das Stück, die Inszenierung. Ich kann mich nicht einmal mehr an den Inhalt erinnern, so schlecht fand ich es. Danach. Sarah und Tom kommen zu uns. Ina: „Herzlichen Glückwunsch. Toll habt ihr das gemacht.“ „Ohhhh, danke!“ Erwartungsvoller Blick zu mir. Ich so: „Schön, euch zu sehen! Wollen wir was trinken gehen?“ Sarah: „Klar. Aber sag doch erst mal, wie hat es dir gefallen?“ „Hmm. Ja Mensch … Die Stühle waren schön? Und die Musik am Anfang war auch okay.“ Das war schon das Netteste, was ich dazu sagen konnte. Ich habe nicht gesagt: „Ich hab mich in den Arm gekniffen, um nicht laut zu schreien vor Abscheu und heißer Wut. Und bei euren Dialogen habe ich überlegt, wie man sie über die Lippen bringt, ohne zwischendurch Erbrochenes runterschlucken zu müssen.“ Hab ich nicht gesagt. Das wäre ehrlich gewesen. Die Wahrheit ist manchmal nicht schön. Und es ist vielleicht nicht so nett, Menschen die Wahrheit zu sagen, wenn die nicht so schön ist. Eine andere Situation. Ich treffe auf der Straße einen Mann – wir hatten einmal eine Art One-Night-Stand, da war ich sehr betrunken … „Bärbel???“ „Äh, hi. Mensch. Schön, dich zu sehen!“ Seht ihr, das war eine höfliche Lüge – und wohin führt einen das? „Schön? Warum hast du dich denn nie mehr gemeldet? Du hast gesagt, du meldest dich.“ „Ich hab gesagt, ich meld mich, wenn ich Lust habe, dich zu sehen.“ Aber ich finde es auch nicht so schön, wenn Menschen Angst vor mir haben. Oder beleidigt sind, weil ich sie vielleicht verletzt habe. Denn ich will ja auch geliebt werden von den anderen Menschen. Also ich hab mir das doch zu Herzen genommen, was die Ina gesagt hat. Ich wollte liebenswürdiger sein. Rücksichtsvoller. Keine böse Bitch. Und jetzt kann ich nicht mehr aufhören. Will immer lieb sein. Die Liebesbitch kommt dauernd in meinen Kopf gekrochen und sagt die Sätze für mich. „Der Onesie steht dir toll!“ „Euer Liederabend hat mir echt das Herz geöffnet. Nein, die dreieinhalb Stunden sind vergangen wie nix. Das Klavier war eigentlich gar nicht so schlimm verstimmt.“ „Das hat sehr lecker geschmeckt.“ Heute ist so ein Tag, an dem ich am liebsten auf den Arm will – oder wenigstens in Ruhe aufs Sofa. Ich bin müde. Ich habe nicht mal die Hälfte von dem geschafft, was ich mir vorgenommen hatte. Ich wollte mir so gern eine DONE-Liste anlegen. Steht auf meiner To-do-Liste. Und die ist länger als die Hausordnung im Waldorfkindergarten. Und ich denke jetzt schon daran, wann ich endlich ins Bett gehen darf. In … sieben Stunden oder so? Immerhin habe ich schon eingekauft. Jetzt hole ich die Kinder ab. Ach, da steht Liliane mit ihrer Tochter Nofretete. Sie: „Hey du, na wie geht´s dir?“ Und ich sage: „Sozial unelastisch. Ich bin müde und will ins Bett!“ Ha. Nein. Das sage ich nicht. Obwohl es die Wahrheit wäre. Aber die Liebesbitch plärrt dazwischen: „Wunderbar. Alles prima. Viel zu tun halt, kennst du ja.“ Sie: „Ach ja, wem sagst du das. Du, die Nofretete wollte so gerne mal die Andrea besuchen. Geht das denn mal?“ Ich sage: „Nein, das ist mir nicht recht. Nofretete hat beim letzten Mal die Wände angemalt und um sich geschlagen, als ich ihr die Stifte abnehmen wollte.“ Ha. Nein. Das sage ich nicht. Sondern: „Ja, natürlich, das ist toll, das können wir gerne machen.“ Sie: „Echt? Jetzt gleich vielleicht? Wir wollten nämlich eigentlich Schuhe kaufen, aber … toll. Dann kommen wir direkt mit.“ Und ehe ich noch STOPP denken kann, rufen schon Uschifluschi und Lalakerima, dass sie aber auch mitkommen möchten und ihre Mütter stehen mit leuchtenden Augen vor mir und ich sage: „Nein, tut mir leid, das ist mir zu viel.“ Ha. Nein. Das tue ich leider nicht! Ich sage: „Ja ja ja – kommt! Ich blase das Planschbecken auf. Da könnt ihr schön spielen.“ „Und können wir Plätzchen backen?“ „Www … klar!“ Vor meinem geistigen Auge sehe ich schon das Chaos. Ich muss Handtücher holen und Ersatzunterhosen. Und sie mit Sonnencreme einschmieren. Und Pflaster kleben. Und genau das gleiche Einhorn herzaubern. Und Anna sagt: „Ach du, wenn die so schön spielen, dann geh ich noch schnell einkaufen, ist das okay?“ „Klar.“ „Und ich gehe noch auf die Post, ja?“ „Klar.“ Und die Manuela ruft an: „Wenn das okay ist, komm ich ein bisschen später, ja? Ich hab ne alte Freundin getroffen, wir haben uns verquatscht …“ „Klar.“ „Und ich bleibe hier mit dem Michel-Angelo, ist das okay?“ „Klar.“ Wer ist denn Michel-Angelo? Ach so, der kleine Bruder von der Dingsda. Wie heißt die Mutter überhaupt nochmal? Egal. „Möchtest du einen Kaffee?“ „Lieber einen Tee. Und einen Sonnenschirm, wenn es geht …“ „Wir wollen was zu essen!“ „Klar.“ Dann kommen die anderen Mütter zurück – und was sage ich liebe Bitch? „Wollt ihr auch einen Kaffee?“ Klar. Wollen sie. Am liebsten auf Eis. „Mit Kokos-Mandelmilch, wenn du hast.“ Ich schnipple Melone, Apfel … meine Erdbeeren, die ich eigentlich selber essen wollte und die außerdem schweineteuer waren, weil sie so bio sind … warum habe ich die nicht rechtzeitig im Kühlschrank versteckt? Und die Kinder machen maximales Chaos. Und ich kann sie nicht anschreien, weil ich mit den Müttern Konversation machen muss. „Halt. Nicht die Blumentöpfe auskippen! Was? Ja, ein ganz süßer Laden ist das da, stimmt. Das wollte ich eigentlich … ach, das ist kaputt.“ Grrrrhmpf, wohin atmet man nochmal, um ruhig zu werden? Ab jetzt halt ich einfach den Mund. Und gähne ab und zu, und zwar so, als wollte ich nicht, dass es jemand mitkriegt, aber doch so deutlich, dass alle sehen: Der reicht es. Die ist fertig. Merken sie nicht. Und ich stemme mich gegen die Bitch, ich will so gerne sagen: „So, jetzt brauch ich mal bisschen meine Ruhe. Bitte helft mir alle, den Saustall aufzuräumen und geht dann.“ Aber was sagt die Liebesbitch? „Wollt ihr auch noch was essen? Soll ich Nudeln machen?“ Klar. Oh. Telefon. Moment, da muss ich kurz rangehen. Ist der Gatte. Vielleicht rettet der mich jetzt. Sagt, wir sind verabredet, ich hol euch in einer halben Stunde ab … „Du, die Rinderschulter, die ich gekauft habe – die wollte ich doch eigentlich am Sonntag machen und bin dann nicht dazu gekommen – die müsste man jetzt wirklich heute machen, sonst ist die nicht mehr gut. Kannst du das aufsetzen? Einfach so als schönes Schmorgericht, mit einem schönen Soffritto dazu, gern viel Gemüse. Und dann dazu – na, am besten sind natürlich deine selbstgemachten Spätzle. Oder Knödel. Oder Kartoffelsalat.“ Ich sage: „Nein. Kann ich nicht. Komm nach Hause und mach es selber.“ Ha. Nein. Ich sage: „Kartoffelsalat schaffe ich nicht mehr, der muss durchziehen.“ Leute, das konnte nicht gutgehen auf die Dauer. Da drehst du irgendwann durch. Doch, das stimmt. Hat mir jedenfalls Manuela erzählt. Sie hat mich am nächsten Tag vor der Kita abgefangen: „Bärbel? Du, was war denn los? Du hast dir Nudeln auf den Kopf gelegt, Erbsen geworfen und deine Gäste angeschrien, dass du auch Dreck machen kannst, nicht nur sie und ihre Bälger? Und dann hast du gar nix mehr gesagt, sondern ganz bockig so getan, als würdest du schlafen und das ganze Chaos nicht sehen? Mitten auf dem Wohnzimmerteppichboden? Wenn dir was zu viel ist, sag es doch einfach. Ganz direkt. Nicht immer so höflich sein, das bringt nix.“ Deswegen habe ich jetzt ein neues Lieblingswort: Nein. Und zwar nicht nein wie „Nein, wie ist das schön!“, sondern einfach „Nein“. Ich bin ja so ein lebensbejahender Mensch. Ich bin positiv, ich mache das Beste aus mir und meinem Leben, ich sage Ja zu mir. Und deshalb sage ich jetzt Nein. Jedes Nein ist ein Ja zu mir selbst! Nein ist ein vollständiger Satz. Da muss danach nix mehr kommen. Nein ist klar. Und es ist ein gutes Wort, das du ruhig sagen darfst, ohne dich dafür zu rechtfertigen oder zu entschuldigen. „Bärbel, du bist doch Freiberuflerin. Am Freitag hat die Kita zu. Kann die Horstine dann zu euch kommen?“ NEIN! „Bärbel, magst du …?“ NEIN! „Mami, ich muss aufs Klo!“ NEIN! NEIN NEIN NEIN NEIN NEIN! Das entspannt. Klar dürft ihr aufs Klo. Und wenn ihr mich besuchen wollt – sprecht mich einfach an, wenn ihr euch traut. Which bitch will answer?
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