Worte sammeln für den Winter
Eine Kolumne von Bärbel Stolz
Von ganz weit weg betrachtet, also von der ISS oder vom Mars aus, scheinen einige Probleme, die die Menschen sich so machen, ganz schön sinnlos zu sein. Wie kann man wohl einem Außerirdischen erklären, dass man jetzt, von seiner Galaxie aus gesehen, vielleicht einfach ein „Mensch“ ist, wir uns aber, je näher wir unserem Sonnensystem kommen, mit jedem Kilometer Richtung blauer Planet, immer weiter voneinander entfernen?
Vom Weltall aus sind wir vielleicht nur Menschen, von China aus betrachtet vielleicht nur Europäer, von Island aus gesehen vielleicht einfach Deutsche – aber vom Saarland aus gesehen Sachsen und Bayern, von Kreuzberg aus gesehen Prenzlschwaben und Zehlendorfer, vom Dachgeschoß aus Laubenpieper und Airbnb-Schlamper. Alles ganz was anderes. Je näher wir uns sind, desto deutlicher distanzieren wir uns voneinander. Und doch. Wir haben dann auch wieder so viel gemeinsam. Erstaunlicherweise.
Wie wir alle, halte ich mich für einzigartig, ein super-individuelles Individuum. Was haben dann Ossis, Portugiesen und ich gemeinsam? Die Ossis hier jammern ja tagaus tagein, dass der Prenzlauer Berg vor 25 Jahren viel schöner war – ohne Wessis, ohne renovierte Wohnungen mit funktionierenden Toiletten, als der Helmholtzplatz noch so scheußlich war, dass man sich lieber an die Tramhaltestelle gesetzt hätte zum Entspannen als dorthin – und zwar nicht wegen der vielen Kinder. Und ich jammere mit.
Und warum? Hier schließt sich der Kreis mit den Portugiesen, denn das, was uns verbindet, ist SAUDADE [Portugiesisch: sɐuˈdad(ə)]. Das ist ein wundervolles Wort, dass es nur auf Portugiesisch gibt. Allein dafür möchte man eigentlich die Sprache lernen. Man kann es nicht mit einem Wort übersetzen, man kann es nur umschreiben – und eigentlich muss man es einfach fühlen. Es ist eine Art nostalgische Erinnerung, ein kostbarer Erinnerungsschatz, gemischt mit Wehmut und leisem melodischem Schmerz darüber, dass man etwas Geliebtes verloren hat, eine Sehnsucht nach einem Gefühl der Vergangenheit, die nie wiederkehren wird. So. Schwingt und zieht und ziept es jetzt in euch? Ja? Gut. Es ist nämlich eine sehr poetische Melancholie, in der man ruhig mal baden darf.
Ja, auch ich kam vor über zwanzig Jahren nach Berlin, in den Prenzlauer Berg – und fand es herrlich. Wenn ich ganz ehrlich bin, sehne ich mich aber nicht nach zugigen Außenklos und schmuddeligen Grünflächen. Die Wahrheit ist: Wir trauern unserem eigenen 25 Jahre jüngeren Ich hinterher. Ich war jung und wild und die Stadt stand mir offen. Die Sommer schienen länger damals, ein Blickwechsel am Abend war ein Roman epischer Länge. Weil die Zeit anders lief.
Von der Party um drei Uhr morgens nach Hause laufen, klar. Auch vom Wedding bis Kreuzberg – kein Problem. (Ja, ich habe auch in Kreuzberg gewohnt – „Schwaben überleben überall wie Kakerlaken“. Und im Friedrichshain auch – „Westdeutsche ziehen immer um“, so sagen manche Urberliner, die in Steglitz geboren und aufgewachsen sind und keinen Anlass sehen, daran jemals etwas zu verändern.) Jedenfalls gehe ich zu Fuß durch mehrere Stadtteile, in High Heels. Ich denke in Tramstationen, Taxi kann ich mir nicht leisten und womöglich kommt man ja unterwegs noch an einer anderen Party vorbei. Zumindest der Bäcker am Schlesischen Tor hat schon auf.
Und man kommt auf jeden Fall so in die WG zurück, dass entweder schon oder noch wer wach ist und man gemeinsam einen Topf Spaghetti aglio e olio kochen – billig, lecker, immer im Haus – und danach ins Bett gehen kann. Eine Nacht war lang genug, sich dreimal zu ver- und entlieben. Okay, zweimal. Natürlich war auch der Schmerz enorm, der Weltschmerz unermesslich, das gebrochene Herz zerborsten für alle Zeit und konnte erst nach langer langer Zeit, vielleicht übernächsten Freitag, wieder heilen. All das durchaus auch erfüllt von poetischer Melancholie – aber eine ordentliche Saudade? Die muss reifen wie ein guter Wein. Jetzt nippe ich daran, seufze – und wende mich der Familie zu, zufrieden wie eine Katze.
Ach, schon Zeit für´s Abendessen. Die Zeit nimmt Fahrt auf mit der Zeit. Saudummes Klischee, es passiert trotzdem irgendwie. Schon wieder ein Jahr um. Bäm. Ist das wieder schnell gegangen. Deswegen haben wir es auch leicht, zu den jungen Leuten zu sagen: „Ach, was ist schon ein Jahr? Oder zwei? Das geht so schnell …“ Wollt ihr mich verarschen? Das ist … unendlich.
Ganz ehrlich: Auch ich bin wütend auf diejenigen, die im Sommer dauernd ohne Maske Party machen mussten, während Kulturschaffende brav versucht haben, Corona-konforme Aufführungen hinzukriegen – und jetzt wieder vor dem buchstäblichen Nichts stehen und friedlich und verzweifelt demonstrieren. Aber ich verstehe die Not der jungen Leute und finde es falsch, Menschen anzugreifen, die zugeben, dass ihnen das Feiern fehlt und sie wieder Party machen möchten. Was für eine Saudade haben die heute 20-Jährigen in 25 Jahren? Wie sieht ein Flirt für euch aus? Reicht ein Augen-Blick, um sich ein halbes Jahr in Tagträumen die untere Gesichtshälfte auszumalen und alle was-wäre-wenns durchzuspielen, bis die Masken wieder fallen dürfen?
Mensch, es ist Zeit, der Sommer war … ein Atemholen,
leg deine Maske aufs Gesicht, und lasse alle Hände wieder los.
Wer jetzt keinen Knuffelpartner hat, findet keinen mehr,
wer jetzt allein ist, muss es lange bleiben …
Vielleicht könnt ihr die unglaublichsten Bücher schreiben?
Romane über alles, was ihr erlebt haben könntet in dieser Zeit. Oder Gedichte wie Rilke, die die Seele füttern. Das Schöne ist: Euer 20-jähriges Ich verschwindet nicht vollständig. Und Saudadewürdige Erinnerungen könnt ihr überall und unter allen Umständen sammeln. Wie Perlen, auf eine Kette auffädeln, die ihr euch jederzeit umlegen könnt.
Und je mehr wir uns jetzt wieder körperlich distanzieren müssen, desto näher kommen wir uns ja womöglich in anderen Dingen. Ossis und Brasilianer und ich. Und Portugiesen. Und Saarländer. Laubenpieper. Teetrinker. Prenzlkroazosen. Saudade. Das ist mein Wort für den Herbst und den Winter. Worte helfen, wenn es kalt wird, das wusste schon die kleine Maus Frederic. Ein Wort aber finde ich nicht. Da bräuchte ich eure Hilfe. Ich bin so voller wehmütiger Sehnsucht nach der Zukunft. Wie ist das Wort dafür? Das könnten wir zusammen finden – denn fühlen tun wir es wohl alle, individuell, universell. ■
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